buntES die Intergenerative & Interkulturelle Interessengemeinschaft in Esslingen
buntES die Intergenerative & Interkulturelle Interessengemeinschaftin Esslingen

Frau Schmidt erzählt ihre Geschichte:

Ich bin 82 Jahre alt. Wie meine Eltern, wurden ich und meine vier Geschwister in Žatec (deutsch: Saaz) im nördlichen Tschechien geboren. Wir gehörten zu den dort lebenden Deutschen. Ich ging auch in eine deutschen Schule.

 

Im Jahr 1945 verlor Deutschland den zweiten Weltkrieg. Die Russen besetzten in dem Jahr die Stadt Saaz. Fast gleichzeitig rückten die Tschechen nach. Seitdem behandelten uns die tschechischen Soldaten schlecht. Mein älterer Bruder musste eines Tages Brot für die russischen Soldaten kaufen. Es war mir unklar, warum er danach von den tschechischen Soldaten festgenommen wurde. Nach zwei Tagen im Gefängnis wurde er von ihnen erschossen. Er war erst 15 Jahre alt.

 

1946 lebten meine Familie und ich in einem Flüchtlingslager in Saaz. Wir durften ins Lager nur wenige Dinge mitnehmen. Die Tschechen nahmen viele unserer Sachen weg. Alle Bewohner im Flüchtlingslager mussten dort arbeiten, auch Kinder. Wir, Kinder, arbeiteten nicht so anstrengend wie die Erwachsenen. Trotzdem wurden wir von morgens bis abends beschäftigt. Essen war knapp. Da wir nur wenig Kleidung hatten, zogen wir irgendwann nur noch kaputte Sachen an. Das Leben im Flüchtlingslager war hart. Jedoch als Kind nahm ich alles nicht so schwer. Ich vermisste nur, dass ich während der Zeit nicht mehr zu Schule gehen konnte. Es gab dort keine Schule. Nur eine Szene kann ich bis heute aus meinen Gedanken nicht löschen: Ein 14 Tage altes Baby konnte keine Muttermilch bekommen, weil die Mutter unterernährt war, sodass sie keine Milch hatte. Jeden Tag musste ich miterleben, wie das Baby immer schwächer werde bis es starb. Ich war damals 12 Jahre alt.

 

Nachdem wir ein Jahr lang in diesem Flüchtlingslager gelebt hatten, wurden wir, ohne unseren Vater, nach Mittelfranken in Bayern mit einem Güterzug ausgewiesen. Angekommen in Mittelfranken lebten wir zu fünft in einem 12m² großen Zimmer. Meine Mutter musste uns damals alleine durchbringen. Erst nach Jahren kehrte unser Vater zu uns zurück. Anders als die Flüchtlingssituation von heute mussten wir uns damals selbst versorgen. Deutschland hatte gerade den Krieg verloren. Die Bevölkerung musste selber zurechtkommen. Wie sollten die Regierung und die Einheimischen sich um uns, die Flüchtlinge, noch kümmern?

 

Wir waren trotz der gleichen Sprache fremd in Deutschland! Wir wurden nicht so gut von den Einheimischen angenommen. Darunter litt meine Mutter besonders. Ich war noch jung und nahm mir dieses unwohle Gefühl nicht zu Herzen. Ich erinnere mich, dass ich am Anfang in der Schule gefragt wurde, ob ich − 12 Jahre alt− lesen konnte. Einige Kinder hänselten sogar meinen Bruder, weil sie sein Deutsch angeblich nicht verstanden. Wir waren zwar Flüchtlinge, aber wir waren nicht doof!

 

Meinen verstorbenen Mann lernte ich in Mittelfranken kennen. Er bekam im Jahr 1953 eine Stelle in Esslingen. Ein Jahr danach zog ich mit meinem einjährigen Sohn zu meinem Mann nach Esslingen-Mettingen. Von Anfang an fühlte ich mich sofort heimisch! Die Nachbarn waren sehr nett und hilfsbereit. Sie haben uns mit offenen Händen angenommen. Einige Male zogen wir in Esslingen um, in verschiedene Ortsteile. Egal, wo ich hinkam, fühlte ich mich wohl. Ja! Heute ist Esslingen mein zu Hause! Hier bin ich glücklich. Meine zwei Kinder wohnen nicht weit weg von mir. Sie und meine drei Enkelkinder besuchen mich oft. Mir geht es gut, ich kann mich nicht beschweren.

 

Wenn ich heutzutage aus den Medien über die Schicksale von Flüchtlingen informiert werde, unterstütze ich die Haltung der Regierung, Flüchtlinge aus Kriegsgebieten in Deutschland aufzunehmen. Ich habe keine Probleme, wenn es viele Flüchtlinge in Esslingen gibt. Vorurteile habe ich auch keine. Ich wünsche nur, dass sie die deutsche Sprache schnell beherrschen, damit sie sich hier gut verständigen können. Wenn eine Flüchtlingsunterkunft neben meiner Wohnung gebaut werden sollte, wäre das für mich in Ordnung, solange sie anständig sind. Aber, das erwarte ich auch von anderen Menschen unabhängig wer er oder sie ist.

 

Wir sollen auf die Flüchtlinge Rücksicht nehmen. Sie sind ja nicht freiwillig aus ihrem Land geflohen. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft sie mit offenen Händen annimmt. Ich habe selbst erfahren, wie man sich fühlt, wenn man abgelehnt oder angenommen wird. Dass die Flüchtlinge hier eine Arbeit finden, hoffe ich sehr für sie. Das ist Unsinn, wenn man behauptet, dass die Flüchtlinge den Deutschen Arbeitsplätze wegnehmen.

 

Weder habe ich einen direkten Kontakt zu Flüchtlingen, noch bin ich ehrenamtlich für sie tätig. Aufgrund meiner Gesundheit kann ich leider nicht aktiv sein. Also habe ich keine Erfahrung mit den Flüchtlingen von heute. Die Situation verfolge ich nur in den Medien. Trotzdem habe ich keine Berührungsängste. Ich war ja auch damals Flüchtling. [Adi]

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